„Ich hab schon so viel reingesteckt – jetzt zieh ich’s auch durch.“
Ob bei Serien, Projekten, Beziehungen oder teuren Tools: Wir bleiben oft an Dingen hängen, die objektiv keine Zukunft (oder keinen Nutzen) mehr haben. Nicht, weil sie gut sind – sondern weil wir schon zu viel investiert haben. Zeit, Geld, Energie, Emotion.
Was hier wirkt, ist kein kluger Realitätssinn, sondern ein psychologischer Denkfehler: die Sunk Cost Fallacy.
Was ist die Sunk Cost Fallacy?
Die Sunk Cost Fallacy beschreibt ein psychologisches Phänomen, das uns dazu bringt, vergangene Investitionen – also bereits geleistete Ausgaben, Zeitaufwand oder Energie – in zukünftige Entscheidungen miteinzubeziehen, obwohl sie objektiv keine Rolle mehr spielen sollten. Diese Investitionen gelten als „versunken“, weil sie nicht mehr rückgängig gemacht oder zurückgewonnen werden können. Rational gesehen müsste eine Entscheidung immer auf der Grundlage dessen getroffen werden, was aktuell und zukünftig sinnvoll ist – unabhängig davon, was bereits investiert wurde. Doch genau das gelingt uns oft nicht.
Stattdessen bleiben wir in einem Muster hängen, das uns vorgaukelt, wir müssten unsere frühere Entscheidung rechtfertigen oder „zu Ende bringen“. Wir sagen uns Dinge wie: „Ich habe schon drei Staffeln dieser Serie gesehen – jetzt ziehe ich sie auch noch durch.“ Oder: „Ich habe für dieses Business-Tool schon 600 Franken gezahlt – dann nutze ich es jetzt auch, egal wie umständlich es ist.“ Oder: „Ich hab so viel in dieses Projekt gesteckt, es wäre doch schade, jetzt aufzuhören.“
Was dabei passiert: Wir investieren noch mehr Zeit, Geld oder Energie, nicht weil die Entscheidung noch Sinn ergibt – sondern, um den bereits erlittenen Aufwand zu rechtfertigen. Wir wollen nicht akzeptieren, dass die Investition vielleicht ein Irrtum war, also machen wir weiter. Und genau das macht diesen Denkfehler so tückisch: Er lässt uns an Dingen festhalten, die wir eigentlich längst hätten loslassen sollen.
Warum funktioniert dieser Denkfehler?
Die Sunk Cost Fallacy wirkt so stark, weil sie mehrere tief verankerte psychologische Mechanismen anspricht. Einer der wichtigsten ist die Verlustaversion: Studien zeigen, dass wir Verluste emotional intensiver erleben als gleich grosse Gewinne. Wenn wir ein Projekt abbrechen oder ein Abo kündigen, fühlt sich das an wie eine Niederlage – selbst dann, wenn ein objektiver Neuanfang besser wäre. Unser Gehirn will den Verlust nicht akzeptieren und entscheidet sich lieber dafür, weiterzumachen – selbst auf Kosten von Zeit und Ressourcen.
Dazu kommt der Mechanismus der Selbstrechtfertigung. Wenn wir viel in etwas investiert haben, fällt es uns schwer, uns selbst einzugestehen, dass die Entscheidung möglicherweise falsch war. Aufzugeben würde bedeuten, einen Fehler zuzugeben – und das kratzt am eigenen Selbstbild. Deshalb gehen viele lieber noch einen Schritt weiter, als den bisherigen Weg zu hinterfragen.
Auch der Commitment-Effekt spielt eine Rolle. Je mehr wir in ein Vorhaben eingebunden sind, desto schwerer fällt es, den Kurs zu ändern. Wer viel Herzblut, Mühe oder Reputation in etwas gesteckt hat, fühlt sich innerlich verpflichtet, es durchzuziehen – auch wenn es objektiv längst nicht mehr sinnvoll ist.
Und dann ist da noch die Hoffnung. Der Glaube daran, dass sich etwas vielleicht doch noch zum Guten wendet – dass sich der Aufwand irgendwann „auszahlt“. Diese Hoffnung hält uns oft länger im Spiel, als uns guttut. Wir klammern uns an ein zukünftiges Happy End, statt die Realität nüchtern zu betrachten.
All diese Mechanismen sind zutiefst menschlich. Aber genau deshalb sind sie auch gefährlich. Denn sie führen dazu, dass wir gute, zukunftsorientierte Entscheidungen mit alten, verlorenen Kosten rechtfertigen – und damit unnötig viel verlieren, nur um einen Irrtum nicht einzugestehen.
Warum es so gefährlich ist
Die Sunk Cost Fallacy wirkt oft leise – aber ihre Konsequenzen sind tiefgreifend. Sie hält uns in Strukturen, Verträgen, Projekten oder Gewohnheiten fest, die uns längst nicht mehr dienen. Nur weil wir bereits investiert haben – sei es in Form von Geld, Zeit, Mühe oder emotionalem Einsatz – fühlen wir uns verpflichtet, weiterzumachen. Dieses Festhalten geschieht nicht aus Überzeugung, sondern aus dem Wunsch heraus, uns selbst zu bestätigen, dass der ursprüngliche Einsatz nicht umsonst war. Doch genau darin liegt der Trugschluss: Die Investition ist längst gemacht – sie wird nicht wieder rückgängig.
Im Business-Kontext kann dieser Denkfehler besonders kostspielig werden. Unternehmen bleiben an veralteten Tools, Partnerschaften oder Produktlinien hängen, weil man schon so viel in die Entwicklung gesteckt hat. Statt Altes loszulassen, um Platz für Neues zu schaffen, werden Ressourcen weiter gebunden – aus Angst, frühere Entscheidungen zu „verwerfen“. So werden Innovationen gebremst, kreative Ideen blockiert und Change-Prozesse verhindert – nicht aus strategischen Gründen, sondern aus psychologischer Trägheit.
Aber auch im Privaten wirkt der Effekt unbemerkt weiter. Wir schauen Serien zu Ende, die uns längst nicht mehr unterhalten, nur weil wir „schon so weit gekommen“ sind. Wir bleiben in Freundschaften, die uns Energie rauben, nur weil sie so lange Bestand hatten. Oder wir verfolgen Ziele weiter, die wir längst innerlich losgelassen haben – aus dem Gefühl heraus, dass das Aufgeben ein Scheitern wäre.
Doch in Wahrheit zahlen wir dabei mit etwas viel Wertvollerem als Geld: mit unserer Lebenszeit. Jede Stunde, die wir in etwas investieren, das uns nicht mehr entspricht, ist eine Stunde, die wir nicht zurückbekommen. Und je länger wir an etwas festhalten, desto schwerer fällt der Absprung – nicht, weil es rational sinnvoll ist, sondern weil wir die bereits getroffene Entscheidung nicht loslassen wollen.
Gerade deshalb ist es so wichtig, den Moment zu erkennen, in dem es nicht mehr darum geht, weiterzumachen – sondern bewusst loszulassen. Nicht als Zeichen des Aufgebens, sondern als Akt der Klarheit und Stärke.
Fazit: Aufgeben ist nicht das Gegenteil von Stärke
Die Sunk Cost Fallacy zeigt, wie stark wir dazu neigen, vergangene Investitionen überzubewerten. Sie führt dazu, dass wir Zeit, Geld und Energie in Dinge stecken, die heute keinen Nutzen mehr bringen – nur weil sie uns einmal wichtig waren oder viel gekostet haben. Doch je länger wir aus Prinzip festhalten, desto schwerer fällt es, neu zu entscheiden. Nicht weil die Situation sich verbessert hat – sondern weil unser Blick zunehmend von der Vergangenheit geprägt ist.
Wichtig ist dabei: Loslassen heisst nicht scheitern. Und es bedeutet auch nicht, dass Durchhalten generell falsch ist. Im Gegenteil: In vielen Situationen ist Ausdauer sinnvoll und notwendig. Aber genau deshalb braucht es einen klaren Blick für die Unterscheidung. Nicht alles, was sich anstrengend anfühlt, ist sinnlos – und nicht alles, was wir begonnen haben, muss zwingend zu Ende geführt werden.
Die Kunst besteht darin, Entscheidungen nicht aus Schuldgefühl oder Selbstrechtfertigung zu treffen, sondern auf Basis der aktuellen Realität. Wer bewusst zurücktritt, ehrlich prüft und sich fragt: „Würde ich heute – ganz unabhängig von der Vergangenheit – dieselbe Entscheidung noch einmal treffen?“, ist nicht impulsiv oder wankelmütig, sondern reflektiert.
Es geht also nicht darum, ständig alles infrage zu stellen oder schneller aufzugeben – sondern darum, das eigene Handeln nicht aus der Vergangenheit heraus zu rechtfertigen, sondern aus der Gegenwart heraus zu gestalten.
Denn am Ende zählt nicht, wie viel du investiert hast.
Sondern ob es dich heute weiterbringt.
Autor: Benjamin Duthaler
Arkes, H. R., & Blumer, C. (1985). The psychology of sunk cost
Kahneman, D., & Tversky, A. (1979). Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk.