Der Zeigarnik-Effekt in Storytelling und Content: Warum offene Enden und Cliffhanger so effektiv sind

Ein spannendes Video endet mitten in einem Satz.
Eine Serie blendet ab, während jemand die Tür öffnet.
Ein TikTok schneidet ab, bevor der eigentliche Tipp kommt – „Teil 2 folgt…“

Was uns manchmal fast wahnsinnig macht, ist in Wirklichkeit ein psychologisches Prinzip, das Content-Creator, Marketingprofis und Drehbuchautoren schon lange gezielt einsetzen: der Zeigarnik-Effekt.

Was ist der Zeigarnik-Effekt?

Benannt nach der russischen Psychologin Bluma Zeigarnik, beschreibt der Effekt folgendes Phänomen:
Unvollständige Aufgaben bleiben besser im Gedächtnis als abgeschlossene.

In einem berühmten Experiment bat Zeigarnik Testpersonen, verschiedene Aufgaben zu lösen – einige wurden mittendrin unterbrochen. Später konnte sich die Mehrheit der Teilnehmenden viel besser an die unterbrochenen Aufgaben erinnern als an die abgeschlossenen.

Der Grund: Das menschliche Gehirn sucht nach Closure, also einem Abschluss. Wird dieser nicht geboten, bleibt die Information mental „offen“ – ähnlich wie ein Tab im Browser, der sich nicht schliessen lässt.

Warum funktionieren Cliffhanger so gut?

Moderne Medien – von Netflix bis Social Media – nutzen genau dieses Prinzip.
Ein Cliffhanger löst Spannung aus, lässt uns emotional involviert zurück und erzeugt ein Bedürfnis, weiterzuschauen, zu lesen oder zu klicken.

Je offener das Ende, desto stärker die kognitive Spannung. Und je mehr Spannung, desto höher die Chance, dass wir zurückkommen.

Content-Marketing trifft Psychologie

Auch im Content-Marketing wird der Zeigarnik-Effekt strategisch eingesetzt:

  • Teaser, die mehr versprechen als sie zeigen
    („Diese eine Sache hat mein Leben verändert…“)
  • Beiträge in mehreren Teilen
    (Teil 1 liefert nur den Kontext – der eigentliche Tipp kommt erst in Teil 2.)
  • E-Mail-Kampagnen mit dramaturgischer Kurve
    („Morgen erfährst du den zweiten Schritt…“)

Das Ziel: Aufmerksamkeit halten, Neugier wecken, Wiederkehr fördern.

Wichtig: Der Effekt funktioniert nur, wenn…

Der Zeigarnik-Effekt ist kein Freifahrtschein für halbgare Inhalte. Damit er wirklich wirkt, braucht es drei Dinge:

  1. Relevanz: Die unterbrochene Information muss als wichtig empfunden werden.
  2. Involvement: Das Publikum muss emotional oder kognitiv involviert sein.
  3. Vertrauen: Es muss die Erwartung bestehen, dass sich das „Tab“ irgendwann wirklich schliesst.

Fehlen diese Zutaten, entsteht Frustration statt Neugier – und das Publikum springt ab.

Fazit: Der Reiz des Unerledigten

Unvollständigkeit kann ein mächtiges Tool sein – gerade in einer Welt, in der Aufmerksamkeit zur knappen Ressource geworden ist.
Der Zeigarnik-Effekt erinnert uns daran, wie stark unser Bedürfnis nach Abschluss ist – und wie sich dieses Bedürfnis gezielt aktivieren lässt.

Wer Spannung erzeugt, ohne zu frustrieren, gewinnt die kostbarste Währung im digitalen Raum: Aufmerksamkeit mit Tiefe.

Autor: Benjamin Duthaler

Zeigarnik, B. (1927). Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen. Psychologische Forschung, 9(1), 1–85.

Van Bergen, P. & Hornsey, M. (2020) The Psychology of Unfinished Stories in Media

Lewin, K. (1935) A Dynamic Theory of Personality

Baumeister, R. F., & Bushman, B. J. (2020) Social Psychology and Human Nature

Masicampo, E. J., & Baumeister, R. F. (2011) Consider it done! Plan making can eliminate the cognitive effects of unfulfilled goals, In: Journal of Personality and Social Psychology

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