Stellen wir uns vor, du sitzt gerade an deinem Schreibtisch und bist dabei, deine Steuererklärung auszufüllen. Natürlich möchtest du das Bestmögliche für dich herausholen. Wenn man dich in diesem Moment fragt, ob du ein ehrlicher Mensch bist, könnte es sein, dass du eher zögerst oder sogar verneinst. Jetzt denk dir die gleiche Person, die in einem Gespräch mit ihrem Partner über ein Problem in der Beziehung steckt. Da du hier an einer Lösung interessiert bist, wirst du wahrscheinlich sehr darauf bedacht sein, ehrlich zu sein. Würde man dich in dieser Situation fragen, ob du ehrlich bist, würdest du wahrscheinlich ohne zu zögern mit Ja antworten.
Nun stell dir dieselbe Person vor, während sie in der Küche steht und ein Gericht kocht. Wenn man dich in diesem Moment fragt, ob du ehrlich bist, würdest du vielleicht etwas länger überlegen müssen, bevor du antwortest. Deine Antwort wäre vermutlich weniger vorhersehbar als in den anderen beiden Situationen.
Dieses Beispiel zeigt, dass Menschen sich je nach Situation unterschiedlich verhalten und auch anders fühlen. Das liegt daran, dass Informationen über uns selbst („Bin ich ein ehrlicher Mensch?“) immer im Zusammenhang mit der jeweiligen Situation gespeichert sind – einmal im Zusammenhang mit der Steuer, einmal im Zusammenhang mit der Partnerschaft. In jeder Situation greifst du also nur auf einen bestimmten Teil dieser Informationen zu. Unser Selbst ist also kein starres Konzept, sondern es passt sich dem jeweiligen Kontext an und kann sich verändern (McConnell 2011).
Wenn wir dich jetzt fragen würden, wer du bist und wie du dich beschreiben würdest, was würdest du sagen? Wahrscheinlich würdest du Eigenschaften nennen (zum Beispiel hilfsbereit, intelligent, aber vielleicht auch stur), aber auch Gruppen, denen du angehörst (zum Beispiel Lehrer, Schweizer, Vegetarier, oder Fan eines bestimmten Fussballvereins). Mit diesen Antworten zeigst du genau das Spannungsfeld, in dem wir uns befinden, wenn wir über unser Selbst nachdenken. Denn einerseits wollen wir uns von anderen abheben („Ich bin einzigartig“), andererseits haben wir aber auch das Bedürfnis, zu einer Gruppe dazuzugehören. Wie wichtig uns dieses Bedürfnis ist, zeigt sich daran, dass wir oft das Verhalten von Gruppen, die uns wichtig sind, nachahmen (Genschow und Schindler 2016).
Gruppen, zu denen wir durch Geschlecht, Herkunft, Beruf oder andere Merkmale gehören, sind ein wichtiger Teil unserer Identität (soziale Identität). Auch unser Selbstwertgefühl hängt teilweise davon ab, wie stark wir uns mit diesen Gruppen identifizieren und wie positiv wir diese Gruppen wahrnehmen (Oakes et al. 1994).
🧠 Das Wesentliche der Social Identity Theory:
- Menschen haben das Bedürfnis, ein positives Selbstkonzept zu erreichen und aufrechtzuerhalten.
- Das Selbstkonzept definiert sich nicht nur über individuelle Merkmale, sondern auch über Gruppenmitgliedschaften (sogenannte soziale Identität).
- Der Wert der Eigengruppe wird auch über den Vergleich mit anderen Gruppen bestimmt.
Autorenhinweis: Der Inhalt dieses Beitrags wurde nur minimal verändert und bleibt weitestgehend dem Original treu.
Author: Benjamin Duthaler
Quellen:
McConnell, A. R. (2011). The multiple self-aspects fra- mework: Self-concept representation and its implications. Personality and Social Psychology Review, 15(1), 3–27.
Genschow, O., & Schindler, S. (2016). The influence of group membership on cross-contextual imitation. Psychonomic Bulletin & Review, 23, 1257–1265.
Oakes, P. J., Haslam, S. A., & Turner, J. C. (1994). Stereo- typing and social reality. Malden: Blackwell.
Original Text: Sozialpsychologie – Das Individuum im sozialen Kontext (Lioba Werth · Markus Denzler Jennifer Mayer)